Yoga verhält sich derzeit wie ein Stück Knete in Kinderhänden. Es unterliegt dem Wandel von Laune, Trend, Zeit und Gesellschaft. Seit der 2000er-Wende werden immer mehr Yoga-Arten auf den Markt gebracht, dabei wurden der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Unter anderem gibt es mittlerweile Lach-, Bier-, Ziegen- und Schwangerschaftsyoga. Aber auch so etwas wie Schlangen-Yoga hat sich in Kanada einen Namen gemacht. Dieser Trend aus Vancouver hat die Yoga-Welt noch nicht gänzlich erobert, denn es dürfte einleuchtend sein, warum beinlose, züngelnde Reptilien um den Hals nicht als absolut elementar für die Tiefenentspannung gelten. Aber was hat das alles noch mit der ursprünglichen Idee und Philosophie von Yoga zu tun?
Eigentlich sollten Sie einen Artikel lesen über die Wirksamkeit von Yoga, über die positive Auswirkung der Yogapraxis auf unseren Alltag, einen Artikel, der uns ins Bewusstsein rückt, wie nachhaltig sich tägliche Yogaübungen auf unsere Gesundheit auswirken. Doch dies ist uns längst bewusst, viele wissenschaftliche Studien und unzählige Reportagen haben es bereits bewiesen. Eine andere Problematik, die an dieser Stelle vielleicht mit größerer Dringlichkeit erörtert werden sollte, liegt darin, dass im westlichen Großstadtleben Yoga vorwiegend nur mehr als Trendsportart und Schönheitswettbewerb praktiziert wird. Dabei geht der ursprüngliche, spirituelle und historische Gedanke des Yogas verloren.
Akzeptanz statt korrekter Performance
Die meisten Yogalehrer der westlichen Welt verkörpern diese Attribute: Sie sind dünn und weiß und nicht selten findet man bei den Yogis in den Großstädten ein hippes Tattoo, eine bunte Yogahose, den Entschluss sich pflanzlich zu ernähren, sozial zu engagieren sowie in der kommende Yoga-Klasse seine gesamten negativen Gefühle loszuwerden. Jessamyn Stanley ist das alles nicht. Stanley ist übergewichtig, sie steht nicht immer über den Dingen, kann immer noch Wut auf bestimmte Leute hegen und ist gleichzeitig Yogalehrerin, eine der bekanntesten Online-Yogalehrerinnen weltweit. Während der Pandemie wuchs die Zahl der Abonnenten Ihrer Yoga-App „The Underbelly“ um das Fünffache, fast eine halbe Million folgen ihr nun auf Instagram. Für ihren Körper erntet sie viel Kritik, denn sie entspricht weder dem gängigen Körperideal einer Yogalehrerin noch vertritt sie die Haltung des „über allem Stehens“. Trotz heftiger Kritik an der Ästhetik ihrer Instagrambilder hat sie nicht aufgehört, ihre Yogasessions zu posten. Bei ihren Stunden geht es nicht um die perfekte Pose. Für Stanley bedeutet Yoga Akzeptanz und Ausdehnung. Das Gute ist da, auch das Schlechte und Hässliche und dies gilt es zu akzeptieren, auch innerhalb der Yoga-Räume. Entspannung, Dehnung, und Ausdehnung sollten laut Stanley nicht nur auf rein körperlicher Ebene passieren, sondern auch im Geist, so dass man nach der Yoga-Praxis im Idealfall ein bisschen gelassener und offener sein kann für die Ungleichheiten der Welt. ➞ theunderbelly.com
Yoga ist vom Ursprung her männlich geprägt
Auch das Geschlecht spielt in der Yoga-Genese eine tragende Rolle, denn Yoga kommt ursprünglich aus einer patriarchalen Gesellschaft, seine Theorie und Geschichte wurden größtenteils von Männern geschrieben – und als Sportart wurde es auch überwiegend von Männern praktiziert. So entdeckten britische Soldaten einst die Asanas (körperliche Yoga-Haltungen) als Fitnessübungen und kombinierten sie mit Gymnastik. So entstand ein sehr körperlich betontes Verständnis des Yoga, das im 20. Jahrhundert seine Wege nach Europa fand. Nachdem größtenteils männliche Gurus in den Fünfziger Jahren nach Europa pilgerten und Yoga verbreiteten, transformierte sich die Praxis um die Jahrtausendwende zunehmend zum Sport von Frauen. Mit der Yogapraxis assoziierte man seitdem Entspannung, Dehnung, Achtsamkeit – Attribute, die nicht mehr zu einer männlich gelesenen Sportart passten.
Was hat Yoga mit Selfcare zu tun?
Während der Pandemie waren wir auf uns selbst zurückgeworfen, in dieser Zeit stieg nachweislich die Nachfrage nach Selfcare, dem Bedürfnis, sich um sich selbst zu kümmern. Wie vertragen sich Yoga und Massagen mit dem aktuellen Zustand der Welt, der vielleicht eher politisches Engagement als den Rückzug ins Private erfordert? Will man, wenn man eine Gesichtsmaske auflegt oder den herabschauenden Hund übt, überhaupt noch eine Revolution starten? Jessamyn Stanley ist überzeugt davon, dass eine Revolution ohne Selfcare zum Scheitern verdammt ist. Dabei gibt es gerade in aktivistischen Kreisen wahnsinnig viel Burn-out – weil Hilfe falsch verstanden wird. Als wäre es nachhaltig, über seine Grenzen zu gehen. Viele denken, was soll der Schwachsinn, Massagen und Yoga verändern doch nicht die Welt! „Aber wenn du eine Massage bekommst und dadurch auch offener für die Ungleichheit in der Welt sein kannst, weil du dich einmal kurz entspannen konntest, was ist falsch daran?“ Stanley findet es besser, als keine Massage zu bekommen und gelähmt zu bleiben, weil einen das Chaos der Welt überfordert.
Yoga ist nicht die Abwesenheit von Wut
Beim Yoga oder während der angeleiteten Meditation bekommt man häufig die Anweisung zu hören, man müsse seine Gefühle loslassen. Aber sind Gefühle nicht auch wichtig? Kann Wut nicht auch eine treibende Kraft sein?
Stanley findet Wut sehr wichtig für die Yogapraxis, erst recht bei Frauen. Viele Menschen hören auf zu praktizieren, weil sie es nicht schaffen, ihren Kopf „abzustellen“. Manche Yogis klagen darüber, dass es einfach nicht still wird im Kopf, ich denke und fühle die ganze Zeit. „Da kann ich nur sagen: Na, Gott sei Dank, alles andere würde bedeuten, dass du tot bist!“ Stanley hält nichts davon, Gefühle loszulassen. Für sie ist es wichtig, Emotionen wahrhaftig zu leben, auch in der Yogastunde. „Wir müssen mit Wut und Traurigkeit leben, was bringt es, zu versuchen, glücklich zu sein, wenn man traurig ist?“ Stanley warnt außerdem, dass genau aus dieser Einstellung heraus manche Meditationen sogar gefährlich sein können. Denn viele Yogis tun so, als wären sie nach der Yogastunde ihre Gefühle losgeworden, als würden sie über allem stehen. Sie sind schnell bereit, ihre Wut auf Ihren Ex-Mann loszulassen, aber verkrampfen innerlich total, weil sie panische Angst davor haben, in einem Yogakurs öffentlich zu pupsen. Da stimmt laut Stanley etwas nicht. Loslassen ist für ihre Begriffe etwas anderes. Loslassen bedeutet auch den Gedanken loszulassen, schön, perfekt und angepasst zu sein.
Wir haben gesellschaftspolitisch aktuell viele Gründe, wütend zu sein – und könnten diese Wut in uns auch konstruktiv nutzen, wenn wir sie punktuell einzusetzen wissen. Das muss nicht bedeuten, dass man sich mit Rage bewaffnen muss, dass sie sich unbedingt gegen jemanden richten muss. Aber mit der Wut können vielleicht in der heutigen Zeit Dinge hochgespült werden, die schon lange unangenehme Teil unserer Gesellschaft waren. Etwas setzt sich in Bewegung, ein Umschwung passiert, dafür kann man laut Stanley der Wut fast ein bisschen dankbar sein. Sie ist wichtig, gerade bei Frauen.
Wenn man merkt, dass Wut aufsteigt, dann ist das fantastisch! Damit hat man bereits die wichtigste Hürde zum inneren Frieden genommen. Alleine durch das bewusste Wahrnehmen werden aggressive Gefühle aber nicht verschwinden. Was ist also die Lösung?
Atmen. Tief in den Bauch hinein. Entspannen. Aufrichten. Vielleicht auch die Schultern nach hinten und unten und dann lass den Atem fließen – so weich, so tief und so entspannt wie möglich. Das wird einem anfangs fast unmöglich vorkommen – der Atem wird wahrscheinlich gepresst sein, der Brustkorb und Bauchbereich möglicherweise verspannt. Es geht nicht darum, die Wut verschwinden zu lassen, sie loszuwerden, sondern Yoga eröffnet einen Möglichkeitsraum, wie man die körperlichen Begleiterscheinungen der Wut langsam verringern kann. So dass man im besten Falle danach mit einem entspannten Körper den Anlass seiner Wut nochmal etwas klarer betrachten kann.
Es geht um Akzeptanz nicht um Entspannung
Im Yoga geht es nicht allein um Entspannung, wer das behauptet, hat noch keine Yogastunde erlebt, so Stanley. Im Yoga geht es in erster Linie um Akzeptanz. Und somit müssen wir auch sehen und akzeptieren, wenn auch in der Yogawelt nicht alles rund läuft.
Yoga ist Teil unserer Gesellschaft. Es ist eine wunderbare Möglichkeit, sich zu erden und zu mehr Ruhe und Gelassenheit im Alltag zu gelangen, aber wir müssen uns auch bewusst sein, dass es ebenso eine Industrie ist, die immer mehr Geld umsetzt. Das ist auch das Problem, das Stanley mit der Idee von Führung hat. „Ich will eigentlich bis heute nicht, dass mir Leute folgen, zu mir aufschauen. Manchmal sage ich mit Absicht Dinge, von denen ich weiß, dass Menschen das nicht mögen werden, nur um klarzumachen: Ich bin kein Vorbild. Ich bin kein Moralapostel. Das ist wie ein Angebot: Hier, bitte schön, das könntest du an mir hassen. Diese Ehrlichkeit hilft mir. Sie hält mich gesund.“
Stanley möchte mit ihren Yogastunden bestimmt keine Botschaften verkünden, eine guruhafte Ratgeberin mimen oder mit Marketing–Sprech neue Klienten generieren. Ihre Haltung ist das Ergebnis einer sehr intensiven geistigen und emotionalen Reise und Auseinandersetzung mit Yoga. Stanley zeigt auf: Yoga ist keine Leistung die man erbringen kann. Es applaudiert niemand. Es gibt dafür kein Publikum und auch keine Gehaltserhöhung. Man muss außerdem nicht schön, reich und frei von menschlichen Gefühlen sein.
Stanley führt uns ebenfalls vor Augen, dass Freiheit auch bedeutet, nicht so reagieren oder agieren zu müssen, wie es die Gesellschaft erwartet. Denn sie bestimmt das Maß ihres Lebens selbst, anstatt es sich von außen aufzwingen zu lassen. Sie vermittelt dadurch, dass es nicht darum geht, sich mit anderen zu vergleichen, sondern dass man den Mut findet, sein eigenes Maß zu finden und nach diesem auch zu leben.
Sie ist die Letzte, die etwas sagen oder machen würde, weil es den gesellschaftlichen Gepflogenheiten entspricht. Im Gegenteil: Sie ist der Überzeugung, wenn wir so ehrlich, authentisch und aufrichtig wie möglich sind, schafft das Raum für andere, das Gleiche zu tun.
Yoke: My Yoga of Self-Acceptance
In diesem Buch fokussiert sich Jessamyn Stanley auf das Yoga des Alltags – ein Yoga, bei dem es nicht nur darum geht, den herabschauenden Hund zu perfektionieren, sondern darum, die harten Lektionen, die auf der Matte gelernt werden, auf das noch schwierigere, tägliche Projekt des Lebens anzuwenden.
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